Ein Drama in mehreren Akten und eine vorläufige Zwischenbilanz. Vielleicht lohnt der Blick darauf, dass die merkwürdige Regulierung von Wohngemeinschaften nicht das zentrale Problem ist (nicht für Esch, nicht allgemein), sondern der spezifische Kontext und wie damit umgegangen wird.
Das Thema Wohnungspolitik in Esch-sur-Alzette schlägt weiterhin Wellen im öffentlichen Diskurs, ausgelöst durch eine eher als Petitesse fungierende Vorschrift im neuen Flächennutzungsplan (PAG), die Wohngemeinschaften nicht verheirateter oder verpartnerter Personen untersagt (siehe den Eintrag vom 21. Juni hier). In Reaktion auf die Resonanz in den sozialen Medien wurde das Thema auch in der Tagespresse behandelt. Tom Haas widmete am 6. Juli zwei Seiten im Tageblatt einem kritischen Essay, mit Argumenten, die auch die universitäre Forschung umtreiben ("Meine Stadt ..."). Im Zentrum seines Beitrags stehen Fragen der sozialen Ungleichheit, Segregation und Gentrifizierung, die im amtlichen Diskurs kaum vorkommen. Unausgesprochener (sic!) Konsens ist, dass man diese Fragen vermeidet, geschmückt mit eher halbherzigen Bekenntnissen zu „mixité“ (soziale Mischung).
Am 9. Juli wurde Luc Everling, der Stadtarchitekt von Esch, von Tom Haas und Melody Hansen im Tageblatt zum Thema PAG und Wohngemeinschaften interviewt ("Diese Diskussion..."). Das Problem der Mikroregulierung von Mietverhältnissen und Mietparteien wird in allen juristischen Facetten der Praxis vorgestellt. Wahrscheinlich ist jede Antwort richtig, die der oberste Planer der Stadt auf die Fragen der Zeitung gibt; das Routinehandeln der Verwaltung ist gut nachvollziehbar. Erkennbar wird aber auch, dass diesem Gespräch die Perspektive fehlt; stattdessen dominiert über weite Strecken die Praxis der Feinsteuerung. Dies mag mit dem aktuellen Thema zu tun haben. Und doch illustriert diese Art der Auseinandersetzung in vollendeter Form das Dilemma, in dem sich die Akteure von Stadtplanung und Wohnungspolitik befinden: Extreme Detailorientierung in einem hochgradig verrechtlichten Umfeld einerseits, und andererseits Unklarheiten in der Richtung, die man ansteuert. Die manifesten Interessenkonflikte muss man an dieser Stelle noch gar nicht aufrufen.
Denn die (Fehl-)Steuerung von Wohngemeinschaften, hier hat der Stadtarchitekt recht, ist nicht der zentrale Punkt des PAG, auch nicht das zentrale Problem Wohnungsmarktes in Esch, wie in den meisten Gemeinden des Landes. Das Wohnungsproblem bettet sich ein in einen größeren Kontext von Wirtschafts-, Gesellschafts- und Raumentwicklung. Und da kommt man wohl kaum an der Einschätzung vorbei, dass die Petitesse von Esch nur ein Indiz dafür ist, wozu der liberalistische Zug aller Regierungen der letzten Dekaden geführt hat: soziale und räumliche Kohäsion nahezu bedingungslos der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit zu opfern. Nirgendwo sind robuste, rechtssichere Konzepte erkennbar, mit denen überörtliche Entwicklungen konsistent gesteuert werden könnten (dieses Schicksal teilt das Großherzogtum mit vielen anderen Ländern); das Problem scheint sich aber auch auf der örtlichen Ebene fortzusetzen, wo man theoretisch wissen kann, wie gesteuert werden müsste. Der Mangel an Wohnraum ist indes nicht einfach ein Problem von Nachfrage und Angebot, dem man mit etwas beschleunigtem Zubau hier und dort begegnen kann. Er wird effektiv stark durch strukturelle Determinanten geprägt, die auf alle Handlungsebenen durchschlagen (Staat, Gemeinden, PlanerInnen, Investoren und Entwickler, Grundbesitzer).
Diskussionen wie die um Esch-sur-Alzette haben jedoch den Mehrwert, dass sie diese, dem Problem vorgelagerten oder zugrunde liegenden Dimensionen gut sichtbar machen – nicht zuletzt durch die Art und Weise, wie diskutiert und argumentiert wird. Abstrahiert man von dem skurrilen Tatbestand, wer mit wem „geht“, mithin zusammenwohnen darf, in Richtung der wirklich relevanten Dinge, dann lassen sich in einer kleinen Zwischenbilanz drei Beobachtungen teilen. Sie tragen vielleicht zum Verständnis des Planungs- und Entwicklungsproblems hierzulande bei. Erstens die hochkomplexe, komplizierte und zugleich (es geht um viel Geld) sensible Rechtslage; zweitens die Rolle, die der Faktor Zeit vor diesem Hintergrund im Planungsprozess spielt; drittens schließlich die oft erratische, reaktive und intransparente Debatte, die weitgehend durch taktische Motive bestimmt ist. Fragen der strategischen Orientierung haben in diesem Kontext fast zwangsläufig keine Chance.
Das Dickicht der Paragrafen, in dem sich alle Entscheidungen über Grund und Boden, Flächen- und Stadtentwicklung wiederfinden und bewegen müssen, gehört zu den großen Mysterien in der Planungsgeschichte dieses Landes. Es kontrastiert auf extreme Weise mit dem Image Luxemburgs als liberaler, agiler Wirtschaftsstandort, der geprägt ist durch kurze Wege zu den Entscheidungsträgern und schnelle Reaktion derselben. In der Stadt- und Raumplanung, diesen Eindruck muss man haben, herrscht das komplette Gegenteil: das Regime der Gesetze, Verordnungen und Paragrafen, das viele Akteure selbst kaum durchdringen; Planwerke, die auf scheinbar endlose Prozeduren geschickt werden, bis ihre Voraussetzungen fast wieder obsolet sind; Planänderungen, die nach Beschluss der Plangrundlagen implementiert werden, weil Investoren dies wünschen, etc. Recht anzuwenden wird einerseits komplizierter, weil externe Vorgaben im Laufe der Zeit zunehmend anspruchsvoller geworden sind, etwa das Umwelt- und Naturschutzrecht der EU. Andererseits werden wesentliche Entscheidungen über Bauvorhaben oft in einer Art Dunkelfeld vorbereitet und getroffen. Damit werden sorgfältige und transparente Abwägungsprozesse – der Kern des Planungsauftrags – schwierig. Hintergrund ist die Werthaltigkeit von Grund und Boden, die den weit überwiegenden Teil der Grundstücksgeschäfte im Wortsinn zu Millionendeals machen kann. Womöglich ist es diese delikate Situation, die konkrete Planungsfälle zum Gegenstand schwer nachvollziehbarer juristischer Prüfungen macht, deren wahrer Ursprung aber in vorauseilenden Gewinn- und Verlustrechnungen der Beteiligten liegt.
Dieses Problem ist ebenso hausgemacht wie die Eigenheiten des politisch-administrativen Systems. Vielleicht konnte man noch den Wachstumsdruck der 1980er Jahre auffangen. Heute ist das System nicht mehr der Geschwindigkeit gewachsen, in der Flächen bereitgestellt, entwickelt und vermarktet werden sollen. Eine Zweistufenverwaltung, die die Kernkompetenz der Bauleitplanung den Kommunen überlässt, muss diese angemessen mit Planungskapazität ausstatten. Ist dies nicht der Fall, sind private Akteure dankbare Partner, sei es im Management von überregulierten Planwerken, sei es als Entwickler und Investor; das Nachsehen hat die öffentliche Sache, die die Gemeinde vertreten muss. Unklare Arbeitsteilung sowohl zwischen Staat und Gemeinden als auch zwischen privat und öffentlich runden das Bild ab.
Mit dem Faktor Zeit sind nahezu alle Gemeinden im Entwicklungsprozess konfrontiert, vielleicht diejenigen ausgenommen, die primär ihre Bestände pflegen. Nehmen wir als Beispiel die Gemeinde Dudelange. Es handelt sich hier um die nach der Wohnbevölkerung viertgrößte Kommune des Landes, quasi Mittelstadt und Wachstumspol im Land der Kleinstädte. Dudelange profiliert sich durch neue Angebote als attraktiver Wohn- und Arbeitsstandort im Süden Luxemburgs und an der Grenze zu Lothringen (FR). Schwerpunkte der Stadtplanung liegen in der Modernisierung des Stadtzentrums (Wohn- und Geschäftsentwicklung, Verkehrsberuhigung) sowie der Auffüllung von weniger dicht genutzten Stadträumen im Bestand. Schließlich steht seit Jahren die Umnutzung einer großen Altindustriefläche im Süden des Stadtgebiets auf der Agenda; 2005 wurde das Stahlwerk der ARBED geschlossen, das wesentlich zum Wachstum und zur Migrationsgeschichte von Dudelange beigetragen hat. Es ist nun Ausgangspunkt einer Neuplanung unter dem Label „Néi Schmelz“.
Die Bevölkerungsentwicklung der Gemeinde blieb ungeachtet der Schließung dieses großen Arbeitgebers durchweg positiv, was sowohl an der Politik der Kommune wie auch an den Randbedingungen des Großherzogtums insgesamt liegt, wo keine Gemeinde in den letzten Jahren Einwohnerverluste vorzuweisen hat. Hatte Dudelange Anfang der 1980er Jahre gut 14.000 Einwohner, waren es im Jahr 2001 bereits 17.320. Als die Planungen für die Entwicklung des ehemaligen ARBED-Geländes konkret waren (2011), wurden 18.781 Einwohner notiert; am 1. Januar 2020 hat die Stadtbevölkerung den Stand von 21.291 erreicht (Daten nach STATEC). Allein in der letzten Dekade ist die Bevölkerung also um ca. 2.500 Personen gewachsen, die jeweils irgendwo auf dem Gemeindegebiet wohnen wollen und sollen.
Das Projekt Nei Schmelz soll auf einem ca. 40 ha großen Gelände ein neues Stadtviertel entstehen lassen, in dem ca. 1.000 Wohnungen für ca. 2.300 Nutzer gebaut werden sollen. Aus wohnungspolitischen Gründen wurde der staatliche Fonds du Logement Träger dieser Entwicklung. Seit Schließung der Usine sind nun 15 Jahre vergangen, just im Juli 2020 wurden die vier Teilbebauungspläne für das Areal im Gemeinderat beschlossen. Noch ist keine Wohnung gebaut. Die komplette Realisierung des Projekts wird für die nächsten 15 (!) Jahre erwartet. Als Mitglied der Jury, die 2009 einen internationalen städtebaulichen Wettbewerb zu beurteilen hatte, erinnere ich mich an die Aufbruchstimmung, die das neue Stadtquartier seinerzeit ausgelöst hat. Den Nimbus als potenzielles Vorzeigeprojekt hat Nei Schmelz behalten. Die reinen Zahlen (Bevölkerungswachstum vs. Planungszeitraum Nei Schmelz) sind aber auch klar: selbst die erfolgreiche Konversion einer Industriefläche vollzieht sich nur in sehr großen Zeitspannen, Wunder auf dem Wohnungsmarkt sind davon realistisch nicht zu erwarten.
Großer Zeitbedarf und -verzug in der Planung sind immanent in einem schnell wachsenden Umfeld. Darüber hinaus spielen weitere Faktoren eine Rolle. Die Konversion von Altindustrieflächen ist mit anderenorts wohl bekannten Problemen konfrontiert, insbesondere hohem Sanierungsbedarf und Interessenkonflikten zwischen öffentlichen und privaten Trägern (vor allem Eigentümern). Der Minette geht es hier ähnlich wie dem Ruhrgebiet, wo die Revitalisierung der Industrieflächen mit dem Verwertungsinteresse der Stahlbarone kollidierte und Entwicklungsoptionen auf Jahre hinaus blockiert hat. Natürlich spielen komplexe Rechtsfragen eine Rolle, und hinter diesen sachlichen Barrieren schimmert das spekulative Verzögern auf Seiten der Grundbesitzer, die unter Wachstumsbedingungen wenig Interesse an der kurzfristigen Mobilisierung ihrer Flächen haben.
Schließlich lehrt die Aufregung um die verhinderten Wohngemeinschaften viel darüber, wie öffentliche Debatten zum Urbanismus geführt werden und wo sie enden. Dass sie sich vielleicht an einem zweitrangigen Detail aufhängen, mag Zufall sein oder ist der besonderen Absurdität dieser Regelung geschuldet. Es macht die Debatte aber noch nicht zwingend zum „Quatsch“, wie der Escher Stadtarchitekt im Tageblatt-Gespräch meint. Denn sie sind Teil eines größeren, zunehmend gravierenden Problems: der massiven Preissteigerung für Immobilien und Wohnraum, die bei weitem nicht nur gering verdienende Haushalte trifft. Das Land weist, hierauf hat auch das Tageblatt hingewiesen, nicht nur die höchste pro-Kopf Wohnungsbauintensität in Europa auf, sondern ist jetzt auch an der Spitze der Skala von Wohnkosten bzw. Kaufpreisen angelangt: “Luxembourg took the position of the most expensive country in terms of new apartment prices in 2019.” (Deloitte Property Index 2020, S. 3). Dieses Problem hat alle Aufmerksamkeit verdient, erscheint unter gleich bleibenden Bedingungen aber nicht wirklich lösbar. Wenn auch die statistischen Daten keine andere Schlussfolgerung nahelegen: Sollte man nicht verstärkt diese Bedingungen zum Thema machen? Urbanistische Diskurse sind jedoch ebenso wie partizipative Prozesse Spiegelbild der professionellen Praxis: Wir sehen eine große Hingabe zur Auseinandersetzung im Detail, dagegen stehen Struktur- und Richtungsfragen nicht zur Debatte.
Kann die Universität, können Forschung und Lehre dazu beitragen, diese Situation zum Positiven zu verändern, über eine Kommentierung von der Seitenlinie hinaus? Vielleicht hilft hier ein konkretes Beispiel, und damit gehen wir nochmal nach Dudelange: die Weiterbildung Formation Continue Aménagement du Territoire (FCAT), die wir als einjähriges interdisziplinäres Programm für Planungspraktiker anbieten. In der letzten Woche hat der aktuelle Jahrgang seine Abschlussarbeiten präsentiert. In vier verschiedenen Gruppen wurden Entwicklungsperspektiven für ein unbebautes Gebiet in innerer Randlage der Gemeinde Dudelange bearbeitet („Rëllent“, siehe als Beispiel die Abbildung von B. Geisen, E. Rosin, M. Elter). Die Aufgabe war, entlang verschiedener Skalenniveaus die Planungsinstrumente Schéma Directeur (strategischer Richtplan), PAG und PAP anzuwenden und konkrete Vorschläge zur Umnutzung dieses Areals zu machen. Der Schwerpunkt lag auf Wohn- und Freizeitnutzung, unter Beachtung von Erschließung, grüner Infrastruktur und Einbindung in das Quartier bzw. bestehende Randbebauung. Die vier Gruppen haben dazu in sich unterschiedliche, aber insgesamt absolut praxistaugliche Entwürfe vorgelegt.
Die Gruppenarbeiten der Weiterbildungsstudierenden haben ein wichtiges Thema in den Fokus genommen: die eher kleinteilige, behutsame Stadtreparatur, Bestandsentwicklung und -ergänzung. Sie setzt nicht auf großkalibrige Projekte mit ihrer massiven Dominanz und Eigendynamik, sondern eine Planung, die sensibel gegenüber den bestehenden Kontexten und damit besser integrierbar ist. Sie löst mit den (im untersten dreistelligen Bereich angesiedelten) neu geschaffenen Wohneinheiten nicht das Wohnungsproblem (das – siehe oben – ceteris paribus ohnehin nicht lösbar ist). Aufgabenstellungen und Antworten wie diejenigen der FCAT können Planerinnen und Planer besser auf die Komplexität des Problems vorbereiten und dazu anregen, in Alternativen zu denken. Sie könnten auch dazu führen, mehr Experiment in Bestand und Neubau zu wagen, bzw. dies überhaupt zu ermöglichen. Eine praktische Konsequenz wäre, die oft formalen Inhalte von Bebauungsplänen und ihren vorbereitenden Studien stärker mit strategischen Inhalten zu füllen – also nicht nur vorgegebene Anforderungen einzuhalten (Listen abzuhaken …), sondern tatsächlich Ziele zu formulieren, Konflikte und Widersprüche aufzuzeigen und Abwägungsvorschläge zu machen.
Die Regulierung von Wohngemeinschaften ist, wie Esch-sur-Alzette zeigt, ärgerlich und überflüssig. Aber es ist bei weitem nicht das zentrale Problem der Stadtentwicklung und -planung; nicht für Esch, nicht für die anderen Gemeinden im Land. Die große Herausforderung ist der spezifische Kontext und der praktische Umgang damit. Dafür gibt es, Wiederholung macht diese Aussage nicht falsch, keine Rezepturen oder Patente. Große Projekte und entsprechende Erzählungen, mit denen hierzulande alles auf einmal grün und nachhaltig werden soll, sind zwar sehr beliebt. Doch sie dauern lange, sind nicht per se grün und schaffen oft eher neue Probleme als Auswege. So paradox es klingt: Luxemburg braucht sowohl Deregulierung als auch Behutsamkeit im Umgang mit urbanistischen Herausforderungen, und wenn der Fall von Esch auch ein Fall von rundherum missglückter Kommunikation ist, wäre der erste Schritt auf dem Weg zur Besserung eine offene, transparente Auseinandersetzung über das, was Stadt heute und künftig sein soll.
No comments:
Post a Comment