Eschauffiert. Der lange Weg zur Universitätsstadt
Der 1. Preis für die treffendste Schlagzeile der vergangenen Woche in der Luxemburger Medienlandschaft gebührt ohne Zweifel Pol Schock vom Lëtzbuerger Land.[1] Sein Beitrag brachte eine Merkwürdigkeit der Stadt- und Wohnungspolitik von Esch-sur-Alzette ins Licht einer größeren Öffentlichkeit, über die zuvor bereits Benoît Majerus von der Universität getwittert hatte. Esch-sur-Alzette, zweitgrößte Gemeinde des Landes und seit 2015 dabei, Universitäts- und Wissensstadt zu werden, hat 2019 einen neuen allgemeinen Bebauungsplan (PAG, dem deutschen Flächennutzungsplan vergleichbar) beschlossen. Dieser Plan enthält für Teile des Stadtgebietes eine Festsetzung, die das Zusammenleben von Personen in Einfamilienhäusern untersagt, wenn diese nicht miteinander verwandt, verschwägert oder verpartnert sind. Dies schließt beispielsweise die unter jungen Leuten oder Studierenden beliebten Wohngemeinschaften aus – solange die Zimmergenossen nicht, wie es hierzulande auch heißt, miteinander „gehen“. Unabhängig von der Frage, wer dies kontrolliert (und wie!), löste die Nachricht ein lebhaftes Unverständnis in Öffentlichkeit und Medien aus.
Nach Angaben des Bürgermeisters der Gemeinde soll mit dieser Maßnahme das Vordringen ausbeuterischer Mietverhältnisse (sogenannte Cafézimmer) verhindert werden. Im Übrigen verstünde er die Aufregung nicht, da Wohngemeinschaften in Apartments (vulgo Mehrfamilienhäusern, Geschossbauten) ja erlaubt seien. Es bleibt abzuwarten, ob diese Regelung – als Teil des gesamten PAG mit der Mehrheit des Gemeinderates beschlossen – einer juristischen Überprüfung standhält; (eine solche hätte man natürlich auch vor der Abstimmung des PAG einholen können). Die Maßnahme bringt einen massiven Eingriff in die Privatsphäre der Bevölkerung mit, der nicht nur rechtlich fragwürdig erscheint, sondern auch als politische Norm kaum akzeptabel sein kann. Darüber hinaus gibt die nur scheinbare Petitesse Einiges über Stadtentwicklung und Stadtpolitik im Großherzogtum im Großen und Ganzen preis.
Mindestens drei Problemkomplexe verdienen eine kurze Würdigung:
Erstens das Wohnungsproblem an sich. Esch-sur-Alzette ist wie alle anderen Gemeinden im Land auch sowohl Nutznießer wie Opfer des zumindest bis dato anhaltenden wirtschaftlichen Erfolgs durch ökonomisches und demographisches Wachstum. Die Nachfrage nach Wohnraum allgemein wie auch mit Blick auf bezahlbares Wohnen übersteigt das Angebot bei weitem. Die schwankende Neubautätigkeit der vergangenen Jahre kommt dieser Nachfrage nicht nur kaum hinterher, sondern verliert sich auch in einem Dickicht aus rechtlicher Regulierung, Eigentumsinteressen und vitalem Geschäftsmodell von Projektentwicklern und Immobilienwirtschaft. Offizielle Bekenntnisse künden seit mindestens 10 Jahren von politischer Entschlossenheit zur ‚Lösung‘ des Problems. Doch gibt es im Detail Hinweise darauf, dass die Praxis eher aus dem Gegenteil besteht: einer Art Kultivierung von Knappheit.[2] Bodenpolitik ist Vehikel für private Wertzuwächse, in deren Genuss primär diejenigen kommen, die über Grundbesitz verfügen oder diesen erben.
Die Petitesse von Esch spielt in diesem großen Konzert eine Nebenrolle, die aber nicht unbedeutend ist. Denn hinter der Regelung steht vermutlich nicht der Schutz vor ausbeuterischen Mietverhältnissen, sondern der Wunsch nach stabilen Nachbarschaften in EFH-Gebieten, und darin wiederum spielt der Besitzstand der ansässigen Bevölkerung sicher eine Rolle. Man heißt ja den positiven Mehrwert des laufenden Wachstumstrajekts sehr willkommen, würde sich die damit unvermeidliche (Auf-)Mischung der Gesellschaft und von lokalen Gemeinschaften aber wenn eben möglich lieber auf Distanz halten. It’s all about politics, stupid, könnte man meinen. Logisch ist auch, dass solche Regelungen keinen Beitrag zur Dämpfung des Wohnungsproblems leisten können, sondern Knappheit aufrecht erhalten. Alleiniger Maßstab gegen den Mangel scheint Neubau zu sein, der jedoch aus vielen Gründen sehr träge verläuft und im langjährigen Durchschnitt ca. nur die Hälfte des notwendigen zusätzlichen Angebots erreicht. Die Frage der Bestandsentwicklung erfährt dagegen in dieser Diskussion kaum Beachtung. Doch würde es sich lohnen, verstärkt über Umnutzungen, Wohnungstausch, Dachgeschossausbau etc. nachzudenken, sinnvoller Weise im Rahmen ausgeprägter kommunaler boden- und wohnungspolitischer Strategien. Wohngemeinschaften könnten helfen, Wohnraum beschleunigt bereitzustellen.
Zweitens ist Esch-sur-Alzette, man muss daran erinnern, seit fünf bis zehn Jahren auf dem Weg zur Universitätsstadt. Seit 2015 wird der Campus Belval von der Universität sowie den öffentlichen Forschungseinrichtungen sukzessive bezogen. Allerdings leidet der Campus daran, dass er außerhalb des zusammenhängenden Siedlungsraums errichtet wurde und keine direkte Anbindung an die Stadt hat; hier besteht Nachholbedarf, der heute durchaus anerkannt wird.[3] Zugleich sind städtebauliche Struktur und Gestaltung des Gebiets (manchem Beamten zufolge kein ‚Campus‘ im eigentlichen Sinne), so angelegt, dass wenig Raum für Improvisation oder studentische Selbstorganisation bleibt. Viele Studierende zirkulieren aus dem Land und über die Staatsgrenzen nach Belval und wieder zurück, ohne dass sie vor Ort Bodenhaftung annehmen. So kann aus der noch etwas unwilligen Universitätsstadt natürlich nie eine Studentenstadt werden. Der Charme der Stadt als alte Industriemetropole würde hierfür jedoch große Potenziale bieten. Regelungen wie der de facto-Ausschluss von Wohngemeinschaften aus bestimmten Quartieren vermitteln aber den Eindruck, dass man sich über diese Chancen womöglich nicht bewusst ist.
Drittens sind die in Esch-sur-Alzette beobachtbaren Phänomene durchaus stellvertretend für die Entwicklungspolitik im Land insgesamt. Instrumente wie die hier diskutierte Regelung zeigen ein Grundproblem im planerischen Regulationssystem: eine ausgeklügelte Feinsteuerung soll das Entwicklungsmodell der small-but-global Urbanisierung am Laufen halten und Wohlfahrtsrenditen durch stetiges Wachstum in geordnete Bahnen lenken.[4] Aufgrund der großen Zahl der berührten Interessen, und weil man verstärkt Ziele wie Nachhaltigkeit und Lebensqualität proklamiert, kommt diese Feinsteuerung an ihre Grenzen. Die einzelnen Ziele geraten verstärkt in Widerspruch zueinander. Mikrosteuerung wird jedoch riskant, wenn sie nicht eingebettet ist in übergeordneten Strategien, das heißt einer Erzählung dahin gehend, wo man hinwill oder kann. Stattdessen schimmert hier ein Urbanismus durch, der nah gebaut ist am ‚muddling through‘, dem planvollen Durchwursteln, wie Lindblom (1959) das durchaus respektvoll gemeint hat, kombiniert mit strikter Kontrolle.[5]
Nun ist es gar nicht so, dass die Stadt Esch keine Strategie vorweisen könnte, im Gegenteil. Im PAG-Prozess gab es nicht nur Öffentlichkeitsbeteiligung, sondern auch eine zarte Idee dahin gehend, wie sich die Stadt in ihrem dynamischen, grenzüberschreitenden Siedlungsraum situiert und positioniert. Eine ganze Ausgabe des Stadtmagazins ‚Den Escher‘ wurde dem PAG gewidmet, inklusive einer Skizze über zukünftige Entwicklungspfade.[6]
Doch was nützt der Plan, die Skizze, wenn die Implementation ganz eigene Wege geht? Esch-sur-Alzette zeichnet ebenso wie die nächstgrößeren Städte Differdange und Dudelange im Süden aus, dass ihre PAG historisch bedingt große Pakete altindustrieller Flächen enthalten, die sukzessive zur Umnutzung kommen. Diese erfolgt primär unter Marktbedingungen, wobei den Entwicklungsgesellschaften die stärkste Stellung in der Wertschöpfungskette zukommt. Große Flächen sind zugleich große Verheißungen: flagship-Architektur, Spektakelurbanismus, große Mitnahmeeffekte für Developer. Auf der MIPIM in Cannes oder der expo-real in München internationales Anlagekapital zu sammeln ist das eine; lokale Probleme in einem sehr sperrigen, sich rasch wandelnden Umfeld zu lösen offenkundig etwas anderes. Unter c.p.-Bedingungen hat das Wohnungsproblem etwas von ‚wicked problems‘: nach Rittel & Webber (1973) sind dies Probleme, die sowohl kompliziert als auch gemein sind.[7] Ihre präzise Formulierung ist schwer, und es gibt keine universelle, für alle Seiten akzeptable Lösung. Sollte die bisherige Praxis weiter Bestand haben, diese Prognose ist sehr robust, dann rückt eine Lösung der Wohnungsfrage in weite Ferne. Nimmt man Staat und Gemeinden beim Wort ihrer - notgedrungen immer häufiger geäußerten - Selbstverpflichtung zu mehr sozialer Kohäsion und zu bezahlbarem Wohnen, dann muss man neue Wege gehen. Einschlägige Berichte der OECD und der Europäischen Kommission haben darauf bereits wiederholt hingewiesen – ohne dass schon klar wäre, wie solche Politiken instrumentiert sein müssten und politisch mehrheitsfähig gemacht werden.[8]
In diese Transformation können die Beteiligten spezifische Kompetenzen einbringen, vor allem das bisher auf allen Seiten offenbar brillant beherrschte ‚negotiative planning‘, also das Kaufen und Verkaufen, Planen und Bauen in einem nur begrenzt offenen Verhandlungssystem.[9] Dagegen gehört eine Einmischung der Gemeinde in die privatesten aller privaten Lebensverhältnisse ihrer Einwohnerinnen und Einwohner wohl nicht zum Repertoire derjenigen Dinge, die eine Stadt attraktiv erscheinen lassen, soziale Mischung ermöglichen und aus der Minettemetropole sukzessive eine Universitätsstadt machen.
Markus Hesse
Index
[1] Schock, P. Echauffiert. Die Universitätsstadt Esch geht gegen Wohngemeinschaften in Einfamilienhäusern vor. Lëtzbuerger Land Nr. 25, 19. Juni 2020, 5
[2] Christmann, N., Hesse, M. & Schulz, C. (2016). Tracing the place of home. The specificities, policies and dilemmas of Luxembourg’s housing sector. LUCA/Ministère de la culture (eds.). Architecture Biennale - Tracing Transitions, 36-50. Luxembourg
[3] Ein aktueller Überblick: Leick, A., Hesse, M., & Becker, T. (2020). Vom „Projekt im Projekt “zur „Stadt in der Stadt “? Probleme der Governance und des Managements großer urbaner Entwicklungsvorhaben am Beispiel der Wissenschaftsstadt Belval, Luxemburg. Raumforschung & Raumordnung Spatial Research & Planning, 78(3), 1-17
[4] Hesse, M. (2019). Metropolisierung oder die zweite Häutung der Stadt. forum 397, Juli/August 2019, 29-32.
[5] Lindblom, C. E. (1959). The science of "muddling through". Public Administration Review, 79-88.
[6] Ville d’Esch-sur-Alzette (2019). Den Escher – PAG. Edition spéciale Mars 2019. Esch-sur-Alzette.
[7] Rittel, H. W. J., & Webber, M. M. (1973). Dilemmas in a general theory of planning. Policy Sciences, 4, 155–169
[8] OECD (2019). OECD Economic Surveys: Luxembourg. Paris: OECD. European Commission: Country Report Luxembourg 2020. Brussels, 26.2.2020, SWD (2020) 515 final.
[9] Zum Beispiel: Healey, P., Purdue, M., & Ennis, F. (1996). Negotiating development: Planning gain and mitigating impacts. Journal of Property Research, 13(2), 143-160
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